Liebe Eltern,
in vielen Ratgebern und Kursen für Kinder begegnet uns das Bild des starken Löwen als Symbol für Resilienz. „Stark wie ein Löwe!“ – dieser Aufruf soll unseren Kindern Mut und Widerstandskraft vermitteln. Doch ich frage mich: Dienen wir unseren Kindern wirklich, wenn wir ihnen ein solch eindimensionales Bild von Stärke präsentieren?
Betrachten wir die Natur genauer: Ist wirklich nur der Löwe stark? Der flinke Gepard überlistet seine Beute mit Schnelligkeit. Der beharrliche Ameisenbär trotzt Gefahren mit seiner einzigartigen Verteidigung. Der winzige Kolibri vollbringt unglaubliche Flugmanöver. Jedes Tier hat seine eigene Art von Stärke, seine besonderen Fähigkeiten, um in seiner Welt zu bestehen.
Warum also sollten wir unsere Kinder auf das Bild eines einzigen, brüllenden Raubtiers reduzieren? Suggerieren wir ihnen damit nicht, dass nur laute, dominante und nach außen hin unerschütterliche Wesen stark sind? Was ist mit den Kindern, die eher still, nachdenklich oder sensibel sind? Sind sie weniger resilient, nur weil ihre Stärke nicht im lauten Brüllen liegt?
Die Botschaft „Stark wie ein Löwe“ kann ungewollt Druck erzeugen. Sie kann Kindern das Gefühl geben, ihre Verletzlichkeit verstecken zu müssen, ihre Ängste zu unterdrücken und ihre Schwächen zu verleugnen. Aber ist das wirklich Resilienz?
Echte Resilienz bedeutet für mich etwas anderes: Es bedeutet, sich selbst anzunehmen – mit all seinen Stärken und Schwächen. Es bedeutet, seine eigenen Gefühle zu erkennen und auszudrücken, auch wenn sie nicht „stark“ erscheinen. Es bedeutet, sich Hilfe suchen zu dürfen, wenn man sie braucht, und zu wissen, dass Verletzlichkeit keine Schwäche ist, sondern ein Zeichen von Mut und Authentizität.
Unsere Kinder müssen nicht immer brüllen können, um Hindernisse zu überwinden. Manchmal ist es die leise Beharrlichkeit des Wassertropfens, der den Stein höhlt, die wahre Stärke zeigt. Manchmal ist es die Fähigkeit, sich anzupassen wie ein Chamäleon, die zum Erfolg führt. Und manchmal ist es der Mut, seine Verletzlichkeit zu zeigen und sich anderen anzuvertrauen, der uns wirklich widerstandsfähig macht.
Lasst uns unseren Kindern ein vielfältigeres Bild von Stärke vermitteln. Lasst uns ihnen zeigen, dass es in Ordnung ist, mal ängstlich zu sein wie ein kleines Reh, mal vorsichtig wie eine Eule, mal verspielt wie ein Otter und manchmal auch traurig wie ein einsamer Wolf.
Denn wahre Resilienz erwächst nicht aus dem Zwang zur unbedingten Stärke, sondern aus der Akzeptanz des eigenen Selbst in all seinen Facetten. Sie entsteht aus dem Wissen: „Ich bin richtig, genau so wie ich bin“ – mit meinen ganz eigenen, einzigartigen Stärken und auch meinen Momenten der Schwäche. Und genau das macht uns stark genug, um die Herausforderungen des Lebens zu meistern.
Lassen Sie uns gemeinsam eine Umgebung schaffen, in der unsere Kinder sich sicher fühlen, ihre ganze Bandbreite an Gefühlen zu zeigen und ihre individuelle Stärke auf ihre eigene Weise zu entfalten – jenseits des eindimensionalen Bildes vom brüllenden Löwen.
Mit herzlichen Grüßen,
Daniela Braun
